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Unumstritten waren Mark Twain und seine Werke nie. Sein Huckleberry Finn belegt in der Liste der American Library Associaton (ALA) den achtbaren 14. Rang der „most challenged books“. Ein Euphemismus für Zensur und Zensurversuche von Gruppierungen mit oftmals durchaus zweifelhafter Zielsetzung.

Twain hat auch einen Kurzessay über die Biene verfasst, in dem er sie zur menschlichen Familie zählt. Sein Urteil gründet auf den Forschungs- und Wissensstand um die vorletzte Jahrhundertwende, somit bezieht der Text einen Teil seines Reizes für den Imker nicht zuletzt aus dem Abgleich zum heutigem Wissen über die Insekten:

Mark Twain

Die Biene

Maeterlinck war es, der mir die Biene nähergebracht hat. Damit meine ich auf übersinnliche und poetische Weise. Einen geschäftlichen Kontakt hatte ich früher gehabt. Damals, als ich ein Junge war. Es ist seltsam, dass ich mich an eine solche Formsache so lange erinnere; es muss annähernd sechzig Jahre her sein.

Bienenforscher sprechen von der Biene immer als „sie“. Das kommt daher, dass all die wichtigen Bienen von diesem Geschlecht sind. Im Bienenstock gibt es eine verheiratete Biene, Königin genannt. Sie hat 50.000 Kinder, von denen sind etwa einhundert Söhne, der Rest sind Töchter. Einige der Töchter sind junge Jungfern, einige alte Jungfern – und alle sind Jungfrauen und bleiben es auch.

In jedem Frühling kommt die Königin aus dem Stock und fliegt mit einem ihrer Söhne davon und ehelicht ihn. Die Flitterwochen dauern nur eine Stunde oder zwei, dann verstößt die Königin ihren Gatten und kehrt nach Hause zurück, fähig, zwei Millionen Eier zu legen. Das wird reichen, das Jahr zu überdauern, doch nicht für mehr als genug, denn Hunderte von Bienen ertrinken jeden Tag, und weitere Hunderte werden von Vögeln gefressen, es ist die Aufgabe der Königin, den Bestand auf dem üblichen Niveau zu halten – sagen wir 50.000. Sie muss während der Hauptsaison, welche der Sommer ist, immer so viele Kinder zur Verfügung und zur Leistung bereit haben, ansonsten würde der Winter die Gemeinschaft bei einer Lebensmittelknappheit erwischen. Sie legt 2.000 bis zu 3.000 Eier pro Tag, gemäß Erfordernis. Und sie muss ihr Urteilsvermögen einsetzen, während einer mageren Blütentracht nicht mehr als nötig zu legen, doch nicht weniger als gefordert während einer üppigen, sonst wird sie der Aufsichtsrat entthronen und eine Königin mit mehr Gespür wählen.

Es gibt immer einige königliche Erbinnen im Bienenstock, die bereit sind, ihren Platz zu übernehmen – bereit und mehr als begierig darauf, obwohl sie ihre eigene Mutter ist. Diese Mädchen werden unter sich gehalten und von Geburt an königlich genährt und gehütet. Keine anderen Bienen bekommen solch ausgezeichnetes Futter wie sie oder leben solch ein hohes und luxuriöses Leben. Demzufolge sind sie größer und länger und gepflegter als ihre arbeitenden Schwestern. Und sie haben einen gebogenen Stachel, geformt wie ein Krummsäbel, während die anderen einen geraden haben.

Eine gewöhnliche Biene wird alle und jeden stechen, aber ein Mitglied des Königshauses nur seinesgleichen. Eine gewöhnliche Biene wird eine andere gewöhnliche Biene aus triftigen Gründen stechen und töten, aber wenn es notwendig wird, die Königin zu töten, werden andere Methoden eingesetzt. Wenn eine Königin alt und matt geworden ist und nicht genügend Eier legt, ist es einer ihrer königlichen Töchter erlaubt, sie zu attackieren. Der Rest der Bienen schaut dem Duell zu und erlebt ein faires Spiel. Es ist ein Duell mit den gebogenen Stacheln. Wenn in arger Bedrängnis eine der Kombattantinnen aufgibt und davonläuft, wird sie zurückgebracht und muss es wieder versuchen – einmal, vielleicht zweimal. Dann, wenn sie noch einmal um ihr Leben rennt, wird ihr der Tod durch Gerichtsurteil zuteil. Ihre Kinder formen sich um ihre Person zu einer Kugel und halten sie zwei oder drei Tage in diesem festen Griff, bis sie zu Tode hungert oder erstickt wird. Währenddessen empfängt die obsiegende Biene die königlichen Ehren und verrichtet die eine königliche Aufgabe: Eier legen.

Was die Moral des Mordes per Gerichtsurteil anbelangt, so ist das eine politische Angelegenheit und wird später an geeigneter Stelle diskutiert werden.

Den überwiegenden Teil ihres kurzen Lebens von fünf oder sechs Jahren lebt die Königin in der ägyptischen Finsternis und der vornehmen Abgeschlossenheit ihrer königlichen Gemächer mit niemandem um sich herum außer ihren plebejischen Bediensteten, die ihr anstelle der Liebe, nach der ihr Herz hungert, die leere Zuneigung ihrer Lippen geben, die sie im Interesse ihrer wartenden Erbinnen ausspionieren und ihnen ihre Schwächen und Unzulänglichkeiten zutragen und ihnen gegenüber aufbauschen, die vor ihr um sie herumscharwenzeln und sie umschmeicheln, aber sie hinterrücks verleumden, die zu Zeiten ihrer Macht vor ihr kriechen und sie in ihrem Alter und ihrer Schwäche im Stich lassen. Dort sitzt sie, ohne Freunde, die lange Nacht ihres Lebens hindurch auf ihrem Thron, durch eine goldene Sperre abgeschnitten vom tröstenden Mitgefühl, von der süßen Kameradschaft und der liebenden Zärtlichkeit, nach der sie sich verzehrt; ein tristes Exil in ihrem eigenen Haus und Hof, mattes Objekt feierlicher Zeremonien und maschineller Verehrung, geflügeltes Kind der Sonne, heimisch in der freien Luft und dem blauen Himmel und den blumenübersäten Feldern, vom trefflichen Zufall ihrer Geburt dazu verdammt, diese unschätzbare Erbschaft gegen eine schwarze Gefangenschaft zu tauschen, eine rauschgoldene Würde und ein liebloses Leben mit Schimpf und Schande am Ende und einem grausamen Tod – und vom menschlichen Instinkt in ihr dazu verurteilt, die Abmachung als kostbar anzuerkennen!

Huber 1), Lubbock 2), Maeterlinck 3) – genau genommen alle bedeutenden Experten – waren sich einig in ihrem Bestreiten, dass die Biene ein Mitglied der menschlichen Familie sei. Ich weiß nicht, warum sie das getan haben, aber ich denke aus unredlichen Beweggründen. Nun, die unzähligen Fakten, die durch ihre eigenen gewissenhaften und gründlichen Versuche ans Licht kamen, beweisen, dass, falls es auf der Welt einen führenden Narren gibt, dieser die Biene ist. Das scheint es zu klären.

Aber das ist die Art des Wissenschaftlers. In der Absicht, eine bestimmte Theorie zu beweisen, wird er dreißig Jahre damit zubringen, ein Gebirge an Fakten aufzuhäufen. Dann ist er mit dem Erreichten so glücklich, dass er üblicherweise das wichtigste Hauptfaktum von allen übersieht: dass seine Anhäufung etwas ganz Anderes beweist. Wenn man ihn auf diesen Fehlschlag hinweist, antwortet er nicht auf die Briefe; wenn man vorspricht, um ihn zu überzeugen, macht der Bedienstete Ausflüchte und lässt einen nicht vor. Wissenschaftler haben abscheuliche Umgangsformen, es sei denn, man unterstützt ihre Theorien. Dann kann man von ihnen Geld leihen.

Um ganz fair zu bleiben gestehe ich ein, dass hin und wieder einer von ihnen einen Brief beantworten wird, aber wenn sie einer Erörterung ausweichen, kann man sie nicht festnageln. Als ich entdeckte, dass die Biene menschlich ist, schrieb ich darüber all jenen Wissenschaftlern, die ich gerade erwähnt habe. Hinsichtlich Ausflüchten ist mir nichts unter die Augen gekommen, dass den erhaltenen Antworten gleichgekommen wäre.

Nach der Königin ist die Persönlichkeit, die als nächste hinsichtlich der Wichtigkeit im Bienenstock kommt, die Jungfer. Die Jungfern zählen 50.000 oder 100.000 an der Zahl und sie sind die Arbeiterinnen, die Arbeitskräfte. Keine Arbeit wird erledigt, sei es im Bienenstock oder außerhalb, wenn nicht von ihnen. Die Männchen arbeiten nicht, die Königin arbeitet nicht, es sei denn, Eier legen ist Arbeit, aber das scheint mir nicht so. Es gibt eh nur zwei Millionen davon, und fünf Monate, den Auftrag auszuführen. Die Verteilung der Arbeit in einem Stock ist so ausgeklügelt und aufwändig arbeitsteilig wie in einem riesigen amerikanischen Maschinensaal oder einer Fabrik. Eine in einer der vielen und verschiedenen Gewerbe des Unternehmens ausgebildete Biene vermag es nicht, irgendein anderes auszuführen und wäre beleidigt, wenn man sie fragte, bei irgendetwas außerhalb ihrer Profession zur Hand zu gehen. Sie ist so menschlich wie ein Koch. Und wenn man vom Koch forderte, bei Tisch zu bedienen, dann weiß man, was passieren würde. Köche würden, sofern gewünscht, Klavier spielen, aber da würden sie die Grenze ziehen. Zu meiner Zeit habe ich von einem Koch verlangt, Holz zu hacken – ich weiß, wovon ich spreche. Selbst ein Dienstmädchen hat ihre Grenzen; sicher, sie sind undeutlich, sie sind unzureichend definiert, gar anpassungsfähig, aber es gibt sie. Das ist keine Vermutung, es gründet auf dem Absoluten. Und dann die Butler. Tragen Sie mal dem Butler auf, den Hund zu säubern. Es ist genau wie ich sage; es gibt auf diese Weise so viel zu lernen, ohne in Büchern nachzuschlagen. Bücher sind sehr gut, aber Bücher decken nicht das gesamte Spektrum der ästhetischen menschlichen Kultur ab. Berufsstolz ist einer der härtesten Knochen, die es gibt, wenn nicht gar der härteste. Zweifellos ist das im Bienenstock genauso.

1) Ludwig Huber (* 02.02.1814; † 10.10.1887), „Vater der badischen Imker“, Verfasser des Handbuchs „Die neue, nützliche Bienenzucht“(1857; englische Übersetzung?). Zeitlich gesehen kann es sich nicht um François Huber (* 02.07.1750 † 22.12.1831, Naturforscher aus der Schweiz) gehandelt haben, dessen Werk „Nouvelles observations sur les abeilles” (1792) ab 1806 in englischer Übersetzung unter dem Titel „New Observations on the Natural History Of Bees“ verfügbar war. Twain gibt im Text an, Huber einen Brief geschrieben zu haben, François Huber starb jedoch vor seiner Geburt.

2) John Lubbock, 1. Baron of Avebury (* 30.04.1834 † 28.05.1913) war ein bedeutender britischer Anthropologe, Paläontologe, Botaniker und Entomologe. Eines seiner Hauptwerke war „Ants, bees and wasps“ (1882).

3) Maurice Maeterlinck (* 29.08.1862; † 06.05.1949), belgischer Schriftsteller und Dramatiker, Träger des Nobelpreises für Literatur (1911); „La vie des abeilles“ (1901), noch im selben Jahr auf Deutsch und Englisch erhältlich („Das Leben der Bienen“, „The life of bees“).

Originaltext mit dem Titel “The bee” in „What is man? And other essays“, Harper & Brother Publishers, New York and London, 1917 – also mehrere Jahre nach dem Tod von Twain. Die Entstehungszeit von “The bee” ist nicht genau zu datieren. Twain schreibt jedoch, dass sein „geschäftlicher Kontakt“ zur Biene als Junge annähernd 60 Jahre her sei, zudem ist Maeterlincks Werk „Das Leben der Bienen“ erst 1901 erschienen, somit dürfte der Text um 1901 oder kurz darauf entstanden sein.

© der deutschen Übersetzung: Matthias Adler-Drews

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